In Mannheim nur Chancen

WIRKSAM SEIN ALS OBSESSION

Wer die quirlige Chefin treffen will, muss in die Unterwelt. Die Gründerzeit-Belle-Etage der Mannheimer Kunsthalle gehört der Kunst in der „Arche“. Als „Arche“ während der Bauzeit präsentiert das renommierte Kunsthaus das Wertvollste aus der Sammlung als Vermächtnis und Verpflichtung. Unten, neben den Toiletten, dient ein Durchgangsraum als Besprechungszimmer. Dort trafen sich Dr. Ulrike Lorenz, Leiterin der Mannheimer Kunsthalle, und Frank Noreiks, Geschäftsführer und Programmleiter aller Sonderprojekte der Filmtheaterbetriebe Spickert, zum ersten Mal persönlich. Die beiden verbindet die Idee, dass Kulturinstitutionen nach Wegen der Zusammenarbeit suchen sollten.

 

Herbert W. Rabl hat Kernsätze protokolliert.

KOOPERATION DENKEN UND WAGEN


Schon zweimal gab es Kooperationen zwischen der Kunsthalle Mannheim und den Lichtspielhäusern. Eine filmische Präsentation der von der Kunsthalle gezeigten Aktions- und Medienkünstlerin Pipilotti Rist lief 2012 und zu der erst kürzlich zu Ende gegangenen Dix / Beckmann-Ausstellung zeigte das Cineplex dokumentarische Filmfragmente.
Lorenz: „Bei der Ausstellung Dix / Beckmann haben wir in der Kunsthalle viele völlig neue Leute gesehen. Das hat sicher auch etwas mit dem Komplementär-Programm im Kino zu tun. Der Film im Kino hat den Schritt in die Ausstellung für Viele, die das Haus wiederentdecken wollten, leichter gemacht.“
Noreiks: „Mit rund 100 Kinobesuchern zu Dix / Beckmann am Sonntagmorgen hat uns der Erfolg dieses Experiments völlig überrascht. Einige Leute haben sich bei uns für diese Zusammenarbeit zwischen Kino und Kunsthalle persönlich und herzlich bedankt.“
Lorenz: „Beide sind wir das Risiko gerne eingegangen. Besser kann ich mir win-win gar nicht vorstellen.“

KULTURLANDSCHAFT BRICHT AUF


Die Mannheimer Kinomacher erleben bei scheinbar exotischen Kulturkooperationen oft handfeste Überraschungen, sogar mit Live-Übertragungen von avantgardistischen Shakespeare-Inszenierungen aus London.
Noreiks: „Wir wundern uns immer wieder, wie viel Publikum dieses anspruchsvolle Schauspielprogramm in englischer Sprache ins Kino holt.“
Lorenz: „Das junge Publikum ist weltläufig, medial vernetzt und vielfältig interessiert. Kultur ist heute ohne die Auflösung der scheinbaren Gegensätze „high“ gegen „low“ gar nicht mehr zu machen. Berührende Inhalte denken und dann wagen, das gemeinsam zu planen, das ist unsere Aufgabe.“


In der konkreten Umsetzung treffen bei Kooperationen unterschiedliche Kulturen aufeinander. Unterschiedliche Blickwinkel machen Themen zu Problemen, wechselseitige Ansprüche zu Hürden. Das Bekenntnis von Dr. Ulrike Lorenz ist eindeutig:
„Es gibt nur Chancen in Kooperationen. Jede Zusammenarbeit außerhalb der eigenen Institution ist eine Bereicherung. Wir schlüpfen mit unseren Anliegen in ganz neue Formen. Ich halte es da mit Käthe Kollwitz: „Ich will wirken in meiner Zeit.“ Darum geht’s. Gattungsübergreifend und formatübergreifend bedeuten neue Kooperationen auch neue Perspektiven. Und natürlich müssen wir unsere Kernkompetenzen kennen und stärken und wissen, was nur wir können. Aber zum Beispiel beim Kino: Wenn ich an neues, größeres, anderes Publikum ran will, dann muss ich da eben was ausprobieren.“

 

AN GROSSE TRADITION ANKNÜPFEN


Die sogenannten Brückenjahre – also die Zeiten des Baues der neuen Kunsthalle bis 2017 – sind für das renommierte Kunsthaus von Mannheim auch Jahre des Aufbruchs. Dr. Ulrike Lorenz weiß genau, dass nicht nur ein Neubau zu errichten ist:
„Bei vielen kunstaffinen Menschen ist die Kunsthalle in den zurückliegenden 15 Jahren aus dem Fokus gefallen. Nur auf zwei Beinen kann man in die Zukunft gehen. Wir brauchen beides, die Klassische Moderne und die zeitgenössische Kunst. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Mannheim eine der frühesten und bedeutendsten bürgerschaftlichen Sammlungen der Moderne weltweit. Es gab Skandale, große Kämpfe, leidenschaftliche Bekenntnisse – so bildet sich ein Ruf. Jahrzehntelang war die Kunsthalle eine richtungweisende und großartige Institution weltweit. Es ist meine Aufgabe an diese große Tradition anzuknüpfen, aber auch mit neuem Denken und neuen Partnern die Welt nach Mannheim zu holen. Die Kunsthalle ist wie ein Schnellboot, mit dem wir neue Felder erschließen, uns zugleich offen halten und selbstbewusst um unsere Wurzeln wissen.“


MENSCHEN BERÜHREN


Kino und Kunsthäuser wollen Menschen berühren, wollen Orte sein für große Gefühle, tiefe Erlebnisse, vielleicht Erkenntnisse. Wie sehen das die Kunsthallen-Chefin und der Kinomacher?
Lorenz: „Kunst soll Relevanz entfalten. Die Besucher, ich – wir nehmen etwas mit in unser Leben. Wir werden reicher.“
Noreiks: „Der Film ist längst auch eine Kunstform. Kunsthäuser und Lichtspieltheater spielen im selben Konzertraum.“
Lorenz: „Jeder im Kulturbetrieb unterliegt ein Stück weit auch dem Tunnelblick. Wir könnten uns gegenseitig viel mehr Publikum zuspielen und für alle neue Perspektiven eröffnen.“


UMARMUNG FÜR MANNHEIM


Die obligatorische Frage an die gebürtige Thüringerin aus Gera lautet: „Wie schmeckt Mannheim?“.
Lorenz: „Mannheim ist rauer als andere Städte und zugleich herzlicher, unmittelbarer. Ich bin aus voller Überzeugung nach Mannheim gekommen. Mannheim bietet viel mehr als außerhalb, aber auch innerhalb der Stadt bewusst ist. Es gibt eine Kulturdichte, eine kritische Masse, viele kleine Kulturprozesse, großen Lokalpatriotismus, beispielhafte Unterstützer der Kunst, ein Spannungsfeld zwischen Frankfurt, Stuttgart, Pfalz und Odenwald – und das alles verdichtet sich zu Ambition. Die Stadt fordert, und da kann jemand wie ich Saft reingeben. Aus Reibung entsteht Wärme, Energie. Es ist eine Auszeichnung, hier zu arbeiten, in all der Offenheit, Neugier, Ruppigkeit und mit dieser anpackerischen Grundhaltung. Das ist ein wunderbares Potential für eine wie mich, für die Kunst auch Obsession ist.“

 

Fotos: Nina Werth, Thommy Mardo Photography

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